Suleika öffnet die Augen – Gusel Jachina

Suleika öffnet die Augen

Diese Rezension fällt mir schwer, ich bastele schon tagelang an diesem Artikel herum. Die Titelfigur Suleika hat mich berührt, interessiert, mitgerissen, ich habe mit ihr (und für sie) gelitten, mich aber auch über sie gewundert, und mich sogar über sie geärgert.

Beim Lesen wurden also alle möglichen Emotionen frei, teils auch gegensätzliche zur gleichen Zeit. Aber ich habe auch Kritik, die die Sternchen wieder gedrückt hat.

ACHTUNG: Diese Rezension spoilert die Handlung.

Suleika ist eine einfache tatarische Bäuerin. Mit 15 ohne Schulbildung an einen alten Mann verheiratet, zum absoluten Gehorsam erzogen. Ehemann und Schwiegermutter knechten sie von früh bis spät wie eine Sklavin, doch weil sie nichts anderes kennt glaubt sie sogar, ein recht gutes Leben zu haben. Ihr hartes Leben auf dem Hof hat mich sofort in den Bann gezogen, und ich war voller Bewunderung, wie sie ihr Los aushält. Man versteht schnell, dass Suleika schlicht und einfach niemals etwas anderes kennengelernt hat und deshalb nie auf die Idee kommt, ihr Leben in Frage zu stellen.

Als ihr Mann im Zuge der Entkulakisierung von Rotarmisten erschossen wird, ändert sich alles. Suleika wird zuerst nach Kazan in ein Gefängnis gebracht, und dann mit Hunderten anderer Zwangsumsiedlern in Güterzügen nach Sibirien verbannt. Ausgerechnet Iwan Ignatow, der Mörder ihres Mannes, ist der Kommandant ihres Zuges. Die Reise nach Sibirien fand ich spannend und eindrucksvoll beschrieben. Vor allem das Chaos, das die Massenverbannung der unfreiwilligen Umsiedler verursacht, und Ignatow immer wieder in Schwierigkeiten bringt, kommt gut rüber. Die ganze Verwaltung der Umsiedelungen ist wohl mal geplant worden, hält aber der Realität nicht stand und die Umsiedler leiden Hunger, Durst und Kälte, und die Reise, die wenige Wochen dauern sollte, wird zu einer monatelangen Irrfahrt.

Ohne ausreichende Vorräte oder nötigem Werkzeug irgendwo in der sibirischen Taiga abgeladen, beginnt für Suleika und ihre Genossen ein verzweifelter Überlebenskampf. Der erste Winter ist wohl die härteste Prüfung für alle Beteiligten. Das Suleika obendrein noch ein Kind zur Welt bringt und den Säugling irgendwie durchbringen muss, macht es nicht einfacher. Es war wirklich sehr spannend zu lesen, wie die Leidensgenossen sich gemeinsam durch den Winter kämpfen. Wie sie mit den einfachsten Mitteln eine Unterkunft bauen, für Holz und Nahrung sorgen, und einfach nur überleben, obwohl viele von ihnen so ein Leben vorher überhaupt nicht gewohnt waren oder kannten.

Bis dahin habe ich Suleikas Weg mit Begeisterung verfolgt. Doch dann änderte sich der Ton der Geschichte schlagartig, wie ich fand.

Sobald sie im Frühjahr Nachschub aus der Stadt erhalten, und der Aufbau des Lagers so richtig losgehen kann, macht das Buch sehr bald einen Zeitsprung von mehreren Jahren, der mir sehr plötzlich vorkam. Bisher haben wir Suleika sehr intensiv begleitet, und dann sind so zack, bumm, peng, einfach mehrere Jahre weg. Das Lager ist plötzlich eine Siedlung, Suleika hat plötzlich einen Job und ist selbstständig. Jetzt könnte man vermuten, Suleika hätte sich auch etwas weiterentwickelt, doch mitnichten. Sie ist immer noch so unbedarft und naiv wie eh und je. Das hat mich wirklich gestört, denn all die Intellektuellen und auch die lebenserfahrenen Genossen müssen in so einer kleinen und engen Gemeinschaft doch wenigstens etwas auf Suleika eingewirkt haben? So ein kleines bisschen?

Plötzlich fokussiert sich die Geschichte auf Suleikas Sohn, der bis dahin eigentlich nur Beiwerk war, der ihr Leben verkompliziert hat. Sie liebt ihn abgöttisch, aber er diente in der Geschichte eigentlich nur dazu, ihre Lage um so schwieriger zu gestalten. Der Leser hat dieses Kind bisher nicht wirklich kennengelernt, doch plötzlich dreht sich alles um den Jungen. Warum? Der war bisher überhaupt nicht wichtig. Diese Kapitel fand ich sehr zäh und langweilig, weil mich der Junge eigentlich überhaupt nicht interessierte.

Zack, bumm, peng, wieder mehrere Jahre übersprungen, und es geht wieder um den Sohn. Obwohl er außer dem Lager, bzw. der Siedlung der Zwangsumsiedler nichts kennt, entwickelt er sich zu einem Teenager, der nach Paris reisen und Orangen essen möchte. Eben genau die Genossen, deren Einfluss an Suleika vollkommen abperlt, wecken in ihm die Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben. Das ist zwar gut und schön, aber eigentlich las ich das Buch ja wegen Suleika, und nicht wegen ein paar spät eingeschobenen Kapiteln über das Kind.

Doch die ist, aller Erfahrungen und möglichen Einflüssen zum trotz, immer noch genauso einfach gestrickt wie am Anfang. Was ich bis dahin auf fehlende Bildung und fehlendes Wissen über Dinge außerhalb ihres Hofes zurückführte, stellt sich jetzt als sehr einfach gestricktes Gemüt heraus, das offenbar nicht fähig ist, sich irgendwie weiterzuentwickeln. Schade, denn nun hatte ich plötzlich kein Mitleid mehr mit ihr, sondern ärgerte mich über ihre Einfalt.

Suleika öffnet ihre Augen nämlich überhaupt nicht. Sie schustert sich die Welt in ihrem Kopf einfach so zurecht, wie es in ihre kindliche Weltanschauung passt, und wird einfach nie erwachsen. Zum Schluss des Buches hatte ich fast den Eindruck, sie sei geistig ein wenig zurückgeblieben.

Es hätte eine wirklich gute Geschichte über eine starke Frau werden können, die sich durch wirklich widrige Umstände kämpft, und stärker daraus hervorgeht. Doch das hat die Autorin leider nicht hinbekommen. Es fängt so stark an, und verraucht am Ende alles unspektakulär mit Zeitsprüngen in der Taiga.

Schade.

ISBN: 978-3746634517
Verlag: Aufbau Taschenbuch
Erschienen: 09. November 2018
Seiten: 541 Seiten
Preis: 14,00 Euro

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